Bernhard Studer
glaubt, dass sich der Mensch selbst von jeder Art Leid heilen kann.
Sie war ungewollt, wurde von Heim zu Heim gereicht, misshandelt und leidet bis heute unter den Erlebnissen ihrer Kindheit. Wegen einer ungerechtfertigten Fremdplatzierung der Vormundschaftsbehörde soll Annalena Fischer* eine Wiedergutmachung von 25'000 Franken erhalten. Mit dem Geld möchte sie sich einen letzten Wunsch erfüllen.
Region Annalena Fischer* trägt einen grünen Rollkragenpullover, eine Jeanshose, die zu locker sitzt und hat kurze graue Haare. Ihre Finger sind feingliedrig und die Hand zittert, wenn sie ihr Wasserglas zum Mund führt. Sie lebt im Grossraum Winterthur und hat hier ihr Glück gefunden. Für einen kurzen Moment. Nun wünscht sie sich zu sterben. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn. Dennoch sagt sie: «Gott gönnte mir mein Leben lang kein bisschen Glück.»
Annalena Fischer wurde als aussereheliches, ungewolltes Kind geboren. Ihre Mutter war dem Alkohol verfallen. Annalena habe ihr Leben zerstört, ihr die Freiheit genommen, sie sei schuld an ihrer Übelkeit. Kaum geboren wurde Annalena zum Opfer. Wer ihr Erzeuger ist, weiss sie nicht. Ihre Mutter ist gestorben. Im Inselhofspital Zürich kam Annalena zur Welt. Wurde vernachlässigt, schreiend im Bettchen liegen gelassen. Ihre Mutter kümmerte sich nicht. Dann wurde sie von Spital zu Spital gereicht. Zwei Jahre lang. Zwischenzeitlich kam sie für wenige Monate zurück zu ihrer Mutter. Diese hatte geheiratet. Und obwohl er es nicht war, wurde ihr neuer Ehemann als Annalenas Vater eingetragen. Doch auch im Kreise ihrer Familie hatte Annalena keine schöne Zeit. Sie wurde körperlich und verbal misshandelt. Sie sei nicht normal und so einen «Totsch» wie sie wollte doch niemand haben, habe ihre Mutter damals zu ihr gesagt. Schliesslich kam Annalena in einem Heim unter. Immer wieder taucht die Mutter unter, ist nicht mehr zu erreichen, drückt sich vor Unterhaltszahlungen. «Ich koste ihr zu viel, hat sie immer gesagt», erzählt Annalena. Ihre Mutter ging noch weiter. Sie empfahl der Kinder- und Jugendpsychologie (siehe oben) sie sollen ledigen Schwangeren eine Abtreibung empfehlen.
Annalena Fischer spricht normal, etwas undeutlich vielleicht, manchmal sucht sie länger nach Wörtern. Folgen der Misshandlungen im Kleinkindalter.
Mit vier Jahren meinten die Ärzte bei Annalena einen hochgradigen Schwachsinn gepaart mit schweren Kontaktstörungen sowie eine zerebrale Schädigung festzustellen. Eine Fehldiagnose. «Das war ein absolut unprofessioneller Entscheid. Das sagt auch mein Psychiater», betont Fischer. Aufgrund dieser Diagnose wurde sie weitergereicht ins Kinderheim Mariahalde. Ein Heim für geistig behinderte Kinder. Obschon die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kantons Zürich sich dagegen ausgesprochen hat.
Aussereheliche Kinder und ihre Mütter wurden damals von der Gesellschaft verurteilt. Annalena war von Beginn weg eine Aussenseiterin im Heim Mariahalde. Gezüchtigt sei sie worden. Viel putzen musste sie, gehorsam sein. Wurde geschlagen und beschimpft. Der Toilettengang wurde ihr verwehrt. «Gegessen wurde an einem langen Tisch», beschreibt sie. Jedes Kind musste zwei Portionen essen. Wer das nicht gegessen hat, bekam den Rest der Woche nur noch das Nötigste zum Überleben. In den Keller gesperrt, draussen bei Sommerhitze an der prallen Sonne jäten, in der Nacht rausgesperrt. «Ich hatte Angst, dass mich jemand holt, dass mir jemand etwas antun könnte», beschreibt sie. Bettnässer wurden unter der Dusche am Unterleib gequält. Mit Teppichklopfern geschlagen. Die Kinder standen unter Aufsicht der Diakonissenschwesternschaft des Neumünsters. «Ich fühlte mich nicht wie ein Kind, eher wie eine Ware», sagt Annalena über die Zeit im Heim Mariahalde.
Annalena war ständig krank. Erbrach schon als Baby und Kleinkind viel. War stark unterernährt.
Unterrichtet wurden die Kinder nicht in staatlichen Schulen, sondern im Heim. Das Schulniveau sei tiefer gewesen als jenes einer Sonderschule. Oft durfte Annalena nicht zum Unterricht, wurde ins Zimmer gesperrt. Eine Schulbildung erlebte sie bis zur vierten Klasse. Rechnen hat ihr Mann ihr später beigebracht. «Meine Seele war verschlossen», sagt sie. Die Unterdrückung hat ihre Spuren hinterlassen.
Als Annalena einem anderen Mädchen im Heim sagte, sie fände eine der Schwestern eine Kuh, wurde sie verraten. Als Strafe hielt man sie an Armen und Beinen fest und schlug ihr mit einem Holzspachtel, wie ihn der Arzt benutzte, um in den Rachen zu schauen, mehrmals auf die Lippen.
Annalena hat oft erbrochen. «Chriesibrägel», Tomaten- und Holundermus musste sie essen. «Das ist so grusig, das kann man nicht essen», sagt Fischer. Vor lauter Elend hat sie erbrochen, vor lauter Angst, gestraft zu werden, hat sie das Erbrochene wieder gegessen, und wieder erbrochen. Und wieder aufgegessen. Bis sie nicht mehr konnte.
Mit 17 konnte sie das Heim verlassen. Damals kam sie in eine Haushaltungsschule für Schwachbegabte. Eigentlich hätte sie in eine Werkstätte für geistig Behinderte kommen sollen. Mit Glück kam sie doch in die Haushaltungsschule. Sie verfiel in die Magersucht. Nur noch Äpfel hat sie gegessen. Und ausgenutzt wurde sie. Die Wohnung der Heimleiterin musste geputzt werden, die Wohnungen von Kunden. Geld bekam sie praktisch keines dafür. Viel gelernt habe sie auch nicht. Auch die Jobsuche danach war schwierig. Die Bewerbung schrieb sie nicht selber. Die Vormundschaft übernahm dies und schrieb die Bewerbung einer geistig Behinderten. Die Antworten der Arbeitgeber waren eindeutig: So jemanden stellen wir nicht ein.
Geschwister hat Annalena keine. Das sei das Schlimmste, sagt sie. «Ich kann an Weihnachten niemanden der Familie zum Essen einladen.»
Artikulieren, Diskutieren und Rechnen konnte Fischer mit 30 noch nicht. Als Grund für ihre verzögerte Entwicklung wurde immer eine Behinderung angegeben. Sie selber ist aber überzeugt und hat es sich medizinisch belegen lassen, dass sie nicht behindert ist und die Verzögerungen von den Misshandlungen und Vernachlässigungen kommen.
Dann bekam sie eine Stelle bei einem Coiffeur. Eigentlich ihr Traumberuf, wäre sie nicht als billige Putzfrau ausgenutzt und diskriminiert worden. Gelernt hat sie in den zwei Jahren Anstellung nichts. Sie hat sich gewehrt. Hat begonnen viel zu lesen, sich zu informieren. Über ihre Rechte, über alles Mögliche. Darauf folgten viele Putzarbeiten. Später versuchte sie es mit Erwachsenenschulen. Sie war überfordert. Die staatliche Schulbildung hat ihr gefehlt. Das erste Mal hat sie gute Erfahrungen mit ihren Mitmenschen gemacht, als sie als Gesellschafterin zu einer Rektorin kam. Bei ihr wurde sie gelehrt, durfte gut kochen und als Begleitung an Anlässe mit. Wurde gefördert.
Von Geburt an wurde Annalena Anna genannt. Obwohl sie das nie mochte. Sie war Annalena und wollte so genannt werden. Niemand schenkte dem Beachtung. Sie war die kleine, schwierige Anna.
Weil sie beruflich kaum Fuss fassen konnte, dreht Annalena Fischer mehrmals durch. Sie wird wiederholt in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen. Auch dort erfuhr sie Unterdrückung und Misshandlung. Wurde mehrfach gewaltsam gefüttert, mit Medikamenten ruhiggestellt oder ans Bett gefesselt. Bis heute ist sie auf regelmässige, psychologische Behandlung angewiesen. Litt aufgrund der Medikamente 26 Jahre lang an einem Magengeschwür.
Mittlerweile lebte sie in einer Mietwohnung in Zürich, hatte sich 10 000 Franken angespart. Sie war einsam, ein Leben lang. Suchte Anschluss, fand ihn in einer Sekte. Geld zu besitzen galt als Sünde. Annalena bekam Schuldgefühle. Das Geld war schnell weg. Das letzte Fünkchen Glaube an sich selber auch. Wegen ihrer Zusammenbrüche empfahlen ihr die Sektenanhänger eine Therapie. Eine für Drogenabhängige.
Fischer ist verheiratet und Mutter. Ihr Mann holte sie aus der Sekte, ermöglichte ihr ein normales Leben. Ihr Sohn geht heute seinen eigenen Weg. Seine Erziehung war schwierig. Ihr Mann ist schwer krank und konnte sie nur wenig unterstützen. Ihr Sohn gibt ihr Halt, auch wenn sie ihn jetzt loslassen muss. Bekommt sie die 25 000 Franken Wiedergutmachungsgeld, möchte sie nach Venedig. Sie liebt die Donna Leon-Krimis. Einmal noch möchte sie etwas Schönes erleben.
*Name der Redaktion bekannt
Grüezi Frau Schäpper, ''Abrutsch in die Sekte'' dieser Satz, Mit 36 wurde sie entmündigt, ist nicht in der Winterthurer Zeitung und der Fraufelder Nachrichten nicht drin das hat man leider aus der Winterthurer Zeitung und Frauenfelder Nachrichten raus genommen. wie so ist dieser Satz nicht drin? das hat mich enorm enttäuscht, denn das wäre für mich enmorm wichtig gewesen. Ist mir telefonisch ver
Annalena Fischer antwortenLade Fotos..